Woche 10 - Kommen und Gehen

Seit dieser Woche bemüht sich unsere griechische Umwelt wirklich sehr darum, bei uns eine Weihnachtsstimmung auszulösen: an zwei Tagen gab es so eine Art Schnee, die Balkone unserer Nachbarn blinken fröhlich und bunt herüber und im Supermarkt laufen mediterrane Interpretationen von wohlbekannten Weihnachtsliedern.

So richtig konnte der Funke dadurch aber zu uns noch nicht überschlagen. Vielleicht, weil bei uns blinkende Neonlichter nicht die erwünschte besinnliche Wirklung haben. Vielleicht aber auch, weil wir unsere meiste Zeit mit Menschen verbringen, denen wir das Wort "Christmas" und seine Bedeutung ausführlich erklären müssen. Und vielleicht, weil die Luft statt nach Plätzchenteig und gebrannten Mandeln nach Cumin riecht. Als uns am Nachmittag des letzten Sonntags aber auffiel, dass wir darüber völlig vergessen hatten, dass gerade erster Advent war, baute Mira wild entschlossen in der Volunteers' Lounge Lautsprecher auf und spielte einen Wunsch-Weihnachtshit nach dem nächsten ab. Und als es dann langsam dämmerte und sich die Freiwilligen um den einzigen Heizkörper im Raum scharrten, konnte man das vielleicht doch adventliches Beisammensein nennen.

Der Blick vom Dach auf den Olymp. Da muss man sich nicht wundern, dass wir eher an Zeus als ans Christkind denken..
Der Blick vom Dach auf den Olymp. Da muss man sich nicht wundern, dass wir eher an Zeus als ans Christkind denken..

Kurz darauf traf ich ein Grüppchen von Frauen vor meinem Deutschunterricht in der Women's Area an. "Jul, jul, strålande jul..." flötete ich beim Eintreten und wurde dabei von dem über Handylautsprecher abgespielten Gesang eines Muezzins unterbrochen. Interresanter Mash-up. Nachdem wir uns gegenseitig erklärten, um was für Musik zu welchem Anlass es sich da genau handelte, kamen wir alle nach und nach ins Schwärmen von unseren jeweiligen festlichen Traditionen. Und so saßen wir über ein Handy gebeugt, googelten abwechselnd Bilder von Ramadanfeuerwerken, Muzen, Heimatstädten, Moscheen von innen, Kirchen von außen, Katajef (dem besten Nachtisch, den man sich vorstellen kann) und Weihnachtsbaumschmuck. Erzählten, staunten, beschrieben. Bis eines der Mädchen feststellte: "Look, we want to be in Syria, you want to be in Germany now. But here we are, in Greece." und bestätigte damit das, was ich schon oft gedacht hatte: Griechenland verbinden sie nicht mit sonnigem Urlaub, schönen Inseln, Zentren alter Kultur und Fetakäse. Es ist für sie einzig und allein ein Wartezimmer. Der Ort, an dem sie zwar sicher sind, aber nicht bleiben werden. An dem sie sich nicht niederlassen können, weil sie jederzeit wieder aufbrechen müssen. An dem man sie nicht will und an dem sie nicht sein wollen. Wo die einzige Beschäfigung ist, sich die Zeit zu vertreiben und zu warten. Und dann abzureisen.

Deshalb treffen wir auch immer auf Verständnis, wenn wir sagen, dass wir in zwei Wochen zurück nach Deutschland müssen. Auf Verständnis, Traurigkeit und Blicke voll mit der Sehnsucht, einfach mit uns mitkommen zu können. In den Kalender zu gucken, einen passenden Termin rauszusuchen, zu bezahlen und am Abreisetag mit dem Bus zum Flughafen zu fahren.

 

Wie die Abreisen für sie hier ablaufen, ist für uns immer noch schwer zu durchschauen. Wir wissen, dass es verschiedene Verfahren gibt, durch die sie ihr Asyl beantragen können, weshalb es nicht "den einen Weg" gibt. Hat eine Familie zum Beispiel schon einen Sohn in Deutschland, können sie auf die Familienzusammenführung setzen. Klappt das nicht (weil der Sohn schon 21 ist und für alt genug erklärt wird, sich ohne Familie durchschlagen zu können), versucht sie es über das nächste Verfahren. Was dauern kann. Als Politik- und Rechtsdummies beobachten wir dann, dass einige Familien am Tag selbst erfahren, dass sie am Abend ihren Bus nach Athen nehmen müssen und am nächsten Morgen ihr Interview haben. Oder schon Wochen vorher ihre Abreise direkt ins Ausland planen können. Oder aber am Nachmittag ihren Freunden verkünden müssen, dass sie am gleichen Tag noch zurück in den Irak fliegen werden. Übersichtlich ist es zumindest nicht und so sind wir immer wieder überrascht, wenn sich eine Familie verabschiedet und am nächsten Morgen ihr Zimmer tatsächlich leer steht.


Dann ist es soweit, es auszuräumen, Müll zu entsorgen, in besonders lebhaften Fällen sogar die Wände neu zu überstreichen und es für die nächste Familie einzurichten. Da bleibt keine Zeit, dem kleinen Mädchen hinterherzutrauern, weil das nächste schon sehnsüchtig darauf wartet, sein Zelt durch ein eigenes Bett zu ersetzen. Von Matratzen bis Teelöffel zählen wir dann alles passend für die Anzahl der neuen Bewohner ab, suchen es in den Lagerhallen zusammen und bringen es zum Zimmer. Zur Austattung gehört ein Bett, ein Kissen, eine Decke und ein Handtuch pro Person. Besteck, Teller und Becher. Ein Kühlschrank, ein Ventilator, ein Teppich und seit dieser Woche ein kleiner Heizkörper.

Manchmal zieht keine zwei Tage später die Familie ein, besucht Sprachkurse, kocht mit den anderen in der Gemeinschaftsküche, lädt zum Tee ein. Dabei kommt es auch nicht selten vor, dass sich Familien wiedertreffen, die sich in anderen Camps schon kennengelernt hatten. Um Integration muss man sich hier zumindest wenig sorgen.

Weil wir also gelernt haben, dass wir uns um unsere Weihnachtsstimmung selbst kümmern müssen, beschlossen wir, dem am 2. Advent aktiv nachzugehen. Beziehungsweise wurden freundlicherweise zu einer 1-A-Gelegenheit dazu eingeladen. Eine bunt gemischte Freundesgruppe, die wir vor ein paar Wochen in einem Café kennengelernt hatten, fragte uns spontan, ob wir Zeit und Lust hätten, mit ihnen ein traditionelles Musik- und Essens-Fest zu besuchen. Nicht lang nachgedacht, schnell zugesagt.

Ohne also genau zu wissen, was wir zu erwarten hatten, fuhren wir am Sonntag aus der Stadt hinaus, Berge hoch, in den Schnee hinein. In einem kleinen Bergdorf auf 1500 m Höhe erreichten wir schließlich nach zwei Stunden Fahrt unser Ziel. Während hier oben normalerweise nur 100 Menschen leben, waren für das Fest von überall her Schaulustige angereist, die sich jetzt auf dem kleinen Marktplatz tummelten. Wenig vegetarische, dafür wärmende und den 0 Grad angemessene Speisen wurde in großen, dampfenden Töpfen gekocht und umsonst an alle verteilt, dazu (leider schrecklich unglühender) Wein. Am beeindruckensten war allerdings die Musik. Mit Keybord, Schlagzeug, Trompete und Klarinette hatte sich eine Band aufgebaut, die diejenige, die gerade nicht aßen und tranken, zu erstaunlich kompliziert anmutenden Kreistänzen verleiteten. Da konnten wir leider nur gucken, zu durchschauen waren die Schritte für uns nicht. Auch wenn sie uns stark an das erinnerten, was uns im Camp an syrischem Tanz beigebracht wurde. Ist offensichtlich wirklich nicht weit weg von hier.

 

Durch den Schnee stapfend erkundeten wir das Dorf, tranken Kaffee, als uns die Füße zu kalt wurden, und lauschten immerzu der Musik. Diese Mischung, erst eindeutig griechisch, dann etwas arabisch und dazu ein kleines bisschen Klezmer-Klarinette, war durch das ganze Dorf zu hören und machte die ohnehin schon verschneite Stimmung noch märchenhafter.

 

Jetzt sitze ich zwar mit entzündeten Nebenhöhlen zu Hause, während Mira meine Sprachkurse übernimmt, aber das war's wert. Wer sich Winter wünscht, kann eben nicht nur Weihnachten haben.