Woche 5 - Attached

"Don't attach!"

 

lautet die Regel Nummer 1, mit der wir schon am ersten Tag in der Orientierung begrüßt wurden. Für die Freiwilligenarbeit im Flüchtlingscamp ist es leicht nachzuvollziehen, warum es so wichtig ist, keine zu festen Beziehungen aufzubauen:

Die Bewohner und besonders die Kinder verbringen die meiste Zeit umgeben von Freiwilligen, die sie unterrichten, mit ihnen spielen, kochen, reden. Dafür sind sie ja hier, also kein Problem soweit. Im Gegenteil: Viele Kinder bekommen von ihren Eltern, die selbst oft traumatisiert oder nicht in der Lage sind, den ganzen Tag ihre Kinder zu unterhalten, oft nicht die Aufmerksamkeit, die sie brauchen. Da kommt ein Freiwilliger mit extra viel Zeit und Zuwendung genau richtig. Schnell wird er zu einer Bezugsperson, jemand, mit dem man jeden Tag Kontakt hat und wichtig für einen ist. Und plötzlich, nach ein paar Wochen, verschwindet er nach Hause. Zuerst ist das nicht schlimm, denn eine Woche zuvor ist ja zum Glück ein neuer Freiwilliger angekommen, mit dem man auch wunderbar spielen und quatschen kann. Aber auch der verschwindet nach einer Weile und wieder geht jemand verloren, der dem Kind etwas bedeutet hat. Dieses Phänomen lässt Miras Psychologenherz zwar höher schlagen, aber die Konsequenz für unsere tägliche Handlung heißt deshalb:

"Don't attach!"

 

Drei Wochen später kommen wir am Anfang der Schicht in den belebten Flur. Die meisten Namen der Vorbeigehenden kennen wir schon (obwohl man im Notfall mit Mohammed oder Ahmed nicht viel falsch machen kann...), wir grüßen, winken, werden nach der jeweils anderen Schwester gefragt, auf einen Tee eingeladen. An unseren Handgelenken sind selbstgeknüpfte Armbänder und immer wieder kuschelt sich eine kleine Hand in die eigene oder eine mütterliche legt sich an die Wange. Sind wir jetzt also trotz aller Warnung "attached"? Oder vielleicht anders: ist es überhaupt möglich, bei täglichen Begegnungen, ob im Unterricht oder im Alltag auf den Fluren, gar keine Beziehung zueinander aufzubauen? Nicht, wenn man es mit so gastfreundlichen und humorvollen Menschen zu tun hat, bei denen auch eine Sprachbarriere kein Hindernis für eine Einladung auf ein Mittagessen darstellt. Aber dabei allein bleibt es nicht. Natürlich wissen wir, dass jeder Mensch, auf den wir in "Elpida" treffen, aus verschiedenen Gründen seine Heimat verlassen musste und auf dem Weg möglicherweise Schlimmeres erlebt hat, als wir uns vorstellen können. Trotzdem grüßen sie uns mit breitem Lächeln und kleinen Scherzen, sodass man fast vergisst, was auf ihnen lastet. Seit einigen Tagen allerdings öffnen sich uns immer häufiger kleine Fenster, durch die wir die Einzelschicksale im Ansatz erkennen. Wenn man zum Beispiel, ohne richtig nachgedacht zu haben, beim Üben von "to be" ("I am happy. Are you happy?") darauf stößt, dass die Schülerin ihre Kinder, die noch in Syrien sind, zuletzt vor drei Jahren gesehen hat. Oder wenn der junge Mann mit der Tasse zuckersüßem Tee in der Hand gerade mit seiner Frau in dem jordanischen Camp telefoniert hat, die nicht weiß, wie lange ihr gemeinsames Baby noch ohne Wasser überlebt. Solche Momente öffnen uns die Augen und die Tatsache, dass sie diese Sorgen mit uns teilen, verbindet.

Wir haben die Regel Nummer 1 also nicht vergessen, aber es ist nicht leicht, ihr zu folgen. Das Kernteam, das schon seit März in Griechenland arbeitet, hatte anfangs ebenso mit "attachement issues" zu kämpfen wie wir jetzt. Eine von ihnen formulierte es so: "Ich habe daraus gelernt und war im "Elpida"-Camp noch nie bei jemandem im Zimmer. Unsere Aufgabe bei "Better Days" ist es, die Problemlage der Leute zu verstehen, ein System zu erschaffen, das ihnen hilft, dann dieses System zu etablieren, und wieder zu gehen. Das klingt unromantisch, aber es ist gesünder für mich und für die Campbewohner." Für uns ist die Situation schon durch den nahen, täglichen Kontakt mit den immer gleichen Menschen im Unterricht natürlich erschwert. Zum Glück wird es aber ab nächster Woche regelmäßige "sharing circles" geben, die, einer Supervision gleich, entlasten und helfen soll, gute und gesunde Freiwilligenarbeit zu leisten.

Da wir bislang viel von den Bewohner des Camps berichtet haben, wollen wir hier noch einen Blick auf die Menschen werfen, mit denen wir zusammenarbeiten. Wir sitzen häufig zusammen in der Volunteer Lounge“, trinken Tee und Kaffee, essen zu Mittag und Abend, diskutieren, lachen, schütten unsere Herzen aus. Seit letzter Woche häufen sich abendliche Treffen und es wurden bereits die Werwölfe im griechischen Schattenwald gesucht (für Nichtkundige: das Werwolf-Spiel wird in möglichst großen Gruppen gespielt und führt in der Regel zu breiten Diskussionen, liebevollen Streitigkeiten und es macht in jeder neuen Gruppenkonstellation ganz neu, aber immer verdammt viel Spaß)  und in der angesagtesten Schwulenbar das Tanzbein geschwungen. Natürlich bleibt die Tatsache, dass wir alle aus den unterschiedlichsten Ländern kommen, nicht ohne Wirkung und Sprachen, Sitten und Länderklischees werden besonders gerne ausgetauscht.

Das Tragische ist auch hier, dass die meisten Freiwilligen zwei bis vier Wochen bleiben und ununterbrochen Abschiede gefeiert werden müssen - Stichwort "attachment". Mit jeder und jedem, die/ der dazukommt oder wieder fährt, ändert sich viel an der Gruppendynamik und manchmal ist es plötzlich für ein paar Tage ganz ruhig und dann wieder aufgedreht und voller Energie. Ein paar Gemeinsamkeiten finden sich aber trotz dieser unterschiedlichen Wirkung und die wollen wir euch natürlich nicht vorenthalten: fast alle Freiwilligen…

        … kuscheln gerne.

        … haben, und das gilt für 90% der Frauen, einen Piercing am oberen Ohr.

… haben, bevor sie nach Griechenland kamen, einen Job gekündigt, der sie nicht glücklich gemacht hat. Viele kommen aus der Journalismus-Branche und hatten das Gefühl, nur zu berichten und nicht zu gestalten. Wie schon gesagt, verdient bei Together for Better Days“ niemand einen Pfennig, also haben die meisten Freiwilligen schon einige Jahre Arbeitsalltag und Geldverdienen hinter sich, um sich die Freiwilligenarbeit überhaupt leisten zu können. Da viele noch nicht genau wissen, wohin es sie als nächstes verschlägt, klingen Abschiede häufig eher so: Wir sehen uns dann alle im März bei der Berlinale!“

… haben ungewöhnliche und gemeinerweise auch noch landesuntypische Namen. Igor kommt aus Portugal. Eli und Shah sind Amerikaner. Ayesha ist Schottin. Im Vergleich dazu machen es einem die Syrer und Iraker wirklich einfach. 

… sind nicht nur diskussionsfreudige Denker, sondern auch und gerade begeisterte Macher. Hat jemand Lust zu tanzen, schnappt sie oder er sich einen Lautsprecher und ein Handy und plötzlich werden im Gemeinschaftsraum der Bewohner syrische Kreistänze erlernt. Möchte jemand sein Arabisch verbessern, findet man eine halbe Stunde später laminierte Vokabelzettel auf den Toiletten. Aus dem Chaos an Instant-Kaffee und Currypulver wurde eines Tages ein langes Regal mit liebevoll beschrifteten Schüsseln und Dosen. Und wenn die Babykatze und die sieben Welpen, die alle eigentlich gar nicht auf dem Campgelände wohnen sollten, nichts zu essen haben, findet sich zuverlässig ein Tierliebhaber unter den Freiwilligen und sammelt energisch zwei Euro von jedem ein.

… können Schokoladentafeln binnen weniger Sekunden und unter kommentiertem Fressneid vernichten.

Und weil unser Blog ohne Bilder nicht unser Blog wäre, kommen hier abschließend noch drei kleine "Neidmacher" von unserem Ausflug am Wochenende, zu dem uns Familie Stier auf der Sithonia eingeladen hat: