Woche 7 - Frühling im November

Wo bleibt der Bericht von Zeltstädten in gruseligen Militärcamps? Von eingeschlagenen Fensterscheiben, die als Eingang dienen? Von frierenden Kindern und hungrigen Eltern?

 

Um ganz ehrlich mit euch zu sein: wir liegen gerade bei satten 25 Grad am Hafen in Thessaloniki. Ja, auch in Griechenland ist es offiziell November. Die Sonne brutzelt uns munter auf den Rücken, Schuhe und Socken haben sich von ganz allein von den Füßen verabschiedet. Alina präsentiert dem griechischen Sonnenanbetervolk ihre neuesten Yoga-Verrenkungen. Mira nicht. Der Olymp winkt schneebedeckt und unglaublich riesig vom anderen Ufer herüber. Die Gruppe junger Griechen nutzt unsere flätzenden Körperhaltungen als Studie für ihr Kunststudium.

Nachdem uns Woche 6 schwer im Magen lag und wir die Füßlein nicht recht aus den Betten bekamen, ist Woche 7 wie ein Frühling im November. Frühstück in der Sonne, nächtliches Treffen mit allen Freiwilligen in kleinen Ruinen, Sharing Circles bei Rotwein und mit Babykatze, Spaziergänge durch die malerische Oberstadt. Oliven, Sesamkränze, Wein.

Die gedämpfte Stimmung der letzen Woche ob des baldigen Abschieds von "Together for Better Days" aus dem Camp hat sich nicht nur bei uns gewandelt. Als wir in einem Treffen aller Freiwilligen zusammenfassten, was für Projekte aktuell laufen und welche Ideen noch im Raum stehen, entstand ein buntes, energiegeladenes Bild. Das Gefühl, in drei Wochen als "Together for Better Days" das Camp zu verlassen, war erst bedrückend und lähmend. Nach diesem Treffen scheinen alle wieder die Energie gefunden zu haben, die Projekte in die Hand zu nehmen und den klaren zeitlichen Rahmen dazu zu nutzen, sie heute und nicht morgen zu realisieren.

Zu diesen Projekten gehört zum Beispiel das Angebot der Datensicherung. Den meisten Bewohnern dient ihr Handy als einziger Aufbewahrungsort von Heimatfotos, Telefonnummern und wichtigen Dokumenten. Die Gefahr, dass dieser lebenswichtige Gegenstand ins heiße Frittierfett fällt, von Kindern durch die Gegend geworfen wird oder einfach aus Altersschwäche den Geist aufgibt, ist denkbar hoch. Zum Glück gibt es hier Menschen im Freiwilligenteam, die wissen, wie man in wenigen Mausklicks alle wichtigen Daten in eine Cloud lädt und für alle Zeiten speichern kann.

Igor, unser (nicht russischer, sondern portugiesischer) Kameraexperte, arbeitet aktuell an einem anderen tollen Projekt:

Jede Fluchtgeschichte ist anders. Wenn wir zu Hause in den deutschen Nachrichten die Bilder von den überfüllten Schlauchbooten im Mittelmeer sehen, ist das schockieren. Aber noch so viel greifbarer und direkter wird eine Flucht, wenn man einem Menschen gegenübersitzt und dessen ganz eigener Geschichte lauscht. Tatsächlich ist das Bedürfnis der Campbewohner, ihre Geschichte zu teilen, sehr groß. Und so profitieren beide Seiten, die Erzählenden und die Zuhörenden, von diesem Projekt. Igor und ein Bewohner des Camps fangen zurzeit die Fluchtgeschichten mit der Kamera ein, wenn jemand die seinige berichten möchte. Die Berichte sollen dann geschnitten und veröffentlicht werden, damit "Flucht" nicht nur ein abstrakter Begriff bleibt.

Und Mira plant ein Projekt mit den drei Ladys, die sich hier täglich zum Nähen treffen. Der Plastiktütenverbrauch in Griechenland ist so bestürzend, dass wir uns seit Wochen den guten, alten Jutebeutel für unsere Einkäufe hersehnen. So entstand die Idee, aus Stoffresten, die zu Hauf herumliegen, einfache Tragetaschen zu nähen und mit einem hübschen, arabischen Schriftzug zu bedrucken. Die Inspirationsquelle dafür war dieses sagenhafte Foto:

Da Weihnachten vor der Tür steht und unseres Wissens noch kein Homo Sapiens gefunden wurde, der sich nicht insgeheim eine Tragetasche wünscht, versuchen wir, sollte der Plan aufgehen, die Taschen nach Deutschland und zu euch zu transportieren. Wir halten euch auf dem Laufenden!

Als Alina letzte Woche im Deutschunterricht "lieben" und "mögen" erklärte (im Arabischen verwendet man für beides "ihbb") und nach Beispielen fragte, waren sich die Frauen einig:

- Ich liebe Syrien! Liebst du Deutschland?

- Mmmmh, that is not an easy question...

- Why?

- Well, what do you know about Deutschland?

- Merkel and Hitler!

Leises Gekicher und fragende Blicke.

(Zu ihrer Verteidigung: was wissen wir über Syrien? Damaskus, Krieg und Falafel. Da war ihre Antwort schon deutlich differenzierter.)

 

Und trotzdem war die Stimmung unter den Frauen klar: Ich liebe Deutschland! Da dachte sich Alina, dass Deutschunterricht auch irgendwie Unterricht über Deutschland bedeuten sollte und so haben wir für die letzten beiden Tage unsere Deutschkurse zusammengelegt und einen Deutschland-Infoabend veranstaltet. Es ging darum, wie Deutschland aussieht, wo welche großen Städte liegen, seit wann es Deutschland überhaupt gibt, wie eine Brezel gerformt ist, warum man im Februar als Nicht-Kölner nicht in Köln sein sollte, was eine Pfandflasche ist und warum es eben schwierig ist, eine Deutschlandflagge zu hissen und "Ich liebe Deutschland!" zu sagen.

Wir hoffen, dass diejenigen Familien, die in den kommenden Wochen ihren Flug nach Deutschland antreten, ihr "Merkel und Hitler"-Wissen um ein etwas alltäglicheres erweitern konnten, und überlegen, sie um einen Syrien-Infoabend in Revanche zu bitten.

Die Kontakte, die uns zu den Eingeworfene-Fenster-Frierende-Kinder-Camps führen können, sind nichtsdestotrotz geknüpft. Wenn unsere nächste Woche es zeitliche zulässt, folgen die entsprechenden Berichte, inshallah, nächsten Mittwoch. (Mittwoch ist hier arabisch zu verstehen und ist folglich ein Freitag.) (Und für Papa: wir bemühen uns, eingeschlagene Fensterscheiben zu umgehen.)

P.S.: Wer den Namen Trump nicht mehr lesen mag, darf hier mit dem Lesen aufhören. Uns geht es zwar ebenso, aber da unsere aufmerksame Frau Mama fragte, wie die Reaktion auf dieses unermessliche Unglück im Camp war, möchten wir hier gerne Antwort geben. Tatsächlich fiel die Reaktion milder, oder sagen wir besser: resignierter, aus als erwartet. Die Wut und immense Trauer, die gerade die amerikanischen Freiwilligen an diesem Tag durchlitten, waren unter den Bewohnern weniger spürbar. Man bekam das Gefühl, dieses Ereignis sei eher eine weitere Perle auf der elenden Kette von Krieg, Flucht, Zukunftslosigkeit, und dass das Aufgeben von Hoffnungen zu gut trainiert sei. Trauriges Gekicher gab es trotzdem: ein arabische Wort, das wie "Trump" klingt, bedeutet "Idiot".