Woche 6 - Ta'abaan

Stell dir vor:

 

Du lebst in einem wunderschönen Land, bis eines Tages Krieg ausbricht. Fremde Menschen erschießen deine Tochter. Du überlebst. Deine Familie und du flüchten auf einem winzigen Boot in ein fremdes Land. Ihr überlebt. Für sechs Monate lebt ihr in einer Zeltstadt in der Türkei. Mehrmals glaubst du zu verdursten. Mehrmals glaubst du, deine Kinder verdursten zu sehen. Ihr überlebt. Ihr flüchtet weiter und landet in Griechenland. Zum ersten Mal seit zwei Jahren bist du in Sicherheit: du hast ein Dach über dem Kopf, du hast Essen und Trinken, niemand bedroht dich und will dein Geld. Und du möchtest dein Leben wieder leben. Aber dein Körper und dein Geist wollen nicht. Du bist müde, den ganzen Tag. Nachts kannst du nicht schlafen. Jedes verdammte Mal, wenn dich jemand fragt, wie es dir geht, kommen dir Tränen. Neue Informationen finden irgendwie keinen richtigen Platz in deinem Kopf und gehen sofort verloren. Du denkst an die Zukunft, du denkst an die Vergangenheit. Die Gegenwart ist zwar besser als das meiste, was dir im letzten Jahr passiert ist, aber du kannst nicht wirklich in ihr leben. Du willst nicht dort sein, wo du gerade bist. Jede Woche ziehen Zimmernachbarn weiter nach Bulgarien, Frankreich, Deutschland. Deine Zukunft? Und neue Zimmernachbarn ziehen nach. Die, die gerade aus den Zeltstädten in der Türkei geflohen sind. Deine Vergangenheit? Wie sollst du da im Hier und Jetzt leben?

Die Frauen, Männer und Kinder, die in unserem Englisch- und Deutschunterricht sitzen, schreiben eifrig mit, sprechen nach, freuen sich über richtige Antworten, ärgern sich über falsche. Schnell unterliegt man der Illusion, auch sie wären aus einem sicheren Land in dieses Camp gereist und auch sie würden in ihrer Freizeit in den Cafés von Thessaloniki sitzen. Aber jetzt, nach fast einem Monat gemeinsamer Zeit, zeigen sich immer häufiger die riesigen Wunden und Risse, die ein geflüchteter Mensch besitzt. Es ist eine depressive Stimmung, die, hätte sie eine Stimme, sagen würde: Ich kann das alles nicht. Das überfordert mich. Bitte lasst mich einfach in Ruhe. Keine und keiner unserer Schülerinnen und Schüler würde diese Sätze jemals aussprechen. Aber man kann sie immer mal wieder spüren. Wenn eine Frau nach dem Unterricht noch eine Frage hat und in Tränen ausbricht, weil ihr das Auswendiglernen so unfassbar schwer fällt. Wenn die Frustration sofort in die Höhe springt, weil die Uhrzeiten im Deutschen gänzlich anders sind als im Arabischen. Wenn es so schwer ist, Alltagsbeispiele im Englischunterricht zu finden. Do you have a job? How many children do you have? What did you do today?

Noch einmal: die Menschen, mit denen wir täglich Sprachen üben, sind das Gegenteil von undankbar oder unkooperativ. Wir spüren nur immer öfter die  Schwere und Erschöpfung, die seit der Flucht auf ihnen lastet und die sie mit sich tragen. Und es ist manchmal schwer, sich davon nicht anstecken zu lassen.

Seit der letzten Woche passiert es immer mal wieder, dass einer von uns beiden vormittags, bevor wir ins Camp fahren, die Augen zufallen. Vor unserer Haustür liegt eine riesige, sonnige Stadt und hat die Türen zu alten Kirchen, Ausstellungen und Tavernen weit aufgerissen. Und wir machen doch noch ein Stündchen Mittagsschlaf, trinken ein, zwei Tassen Kaffee mehr, weiten das Frühstück in die Mittagsstunden hinein aus. Wir stürzen uns weniger in das sonnige, griechische Leben und sitzen häufiger bei gemütlichem Gedudel am Küchentisch und tragen Kartenspiel-Kämpfe aus. Das mag sehr studentisch anmuten, aber eigentlich waren wir an den Vormittagen der Wochen zuvor meistens auf Erkundungstour in kleinen Sträßchen in der Stadt unterwegs. Was ist passiert?
Es hat sich etwas verändert. Als wir in Griechenland ankamen, war die Energie, die wir aus den neuen Herausforderungen und einer unbekannten Welt gezogen haben, ganz deutlich spürbar. Auch diese Energie hat uns erschöpft und wir sind abends in die Betten gefallen. Aber die Erschöpfung, die wir seit den letzten Tagen spüren, ist anders. Wir sind nicht unglücklich, aber etwas gedämpfter. Seltener im schöpferischen Macher-Modus. Vielleicht etwas reizbarer.
Einer der riesigen Vorteile davon, zu zweit zu sein, ist, dass wir uns über solche Gemütswandlungen austauschen können und mögliche Gründe finden. Dabei sind wir auf eine Handvoll Auslöser für unsere neue Erschöpfung gestoßen. Die Herausforderung, mit traumatisierten Menschen einen Alltag zu gestalten, gehört definitiv dazu.

Ein weiterer Faktor ist, dass das Camp, in dem wir arbeiten, zu den bestaufgestellten Camps in Griechenland zählt. Die Arbeit hier ist sicher und schnell vertraut. Wir kennen die Bewohner, die Mitfreiwilligen, das Camp, den Tagesablauf. Natürlich ist jeder Tag in einem Flüchtlingscamp anders und das Leben ist abwechslungsreich – im Guten wie im Schlechten. Mal backen alle Bewohner zusammen riesige Bleche voller Kekse und das gesamte Camp duftet nach Zimt. Mal fällt das Wasser für mehrere Stunden aus und niemand kann abwaschen, duschen, Klospülungen betätigen. Dann gibt es Streitigkeiten unter den Bewohnern, die auf engstem Raum ihren Alltag bestreiten, und jemand wird handgreiflich. Oder die fahrende Bibliothek einer unabhängigen Freiwilligenorganisation fährt auf den Vorplatz und es werden begeistert Bücher in Arabisch und Englisch durchgeblättert. Da aber so viele Freiwillige und Organisationen im Camp an einem Strang ziehen und perfekt abgestimmt zusammenarbeiten, betreffen uns solche Zwischenfälle und Ablenkungen meist nicht direkt. Wir erfahren davon, aber der Arbeitsalltag im Camp, wie etwa unser Sprachenunterricht, ist normalerweise nicht davon betroffen. Die klassische Situation sieht so aus, dass wir im Aufenthaltsraum der Freiwilligen sitzen und unseren Unterricht vorbereiten. Durch die hereinkommenden und herausgehenden Menschen erfahren wir, dass sich gerade draußen ein Kind den Kopf aufgeschlagen hat. Sofort finden sich zwei Freiwillige, die das Kind in die Arztstation im Camp bringen. Und wir bereiten weiter den Unterricht vor.
Aus dieser Vertrautheit mit den Abläufen im Camp und der Sicherheit, dass jederzeit ausreichend viele Freiwillig vor Ort sind, um mit fast jeder Situation umgehen zu können, ziehen wir natürlich viel Entspanntheit. Zugleich wissen wir, dass, anders als in anderen Camps, niemand nachts erfriert oder verhungert, wenn wir mal einen Tag frei machen. Trotz der ärmlichen Verhältnisse in unserem Camp geht es den Geflüchteten verhältnismäßig gut. Und natürlich darf man unsere Arbeit folglich nicht einen Luxus für die Menschen nennen. Aber wir können eben mal einen Tag frei nehmen oder erschöpft ins Camp kommen. Unsere Arbeit ist wichtig, aber sie ist nicht unentbehrlich. Und möglicherweise führt das jetzt, da wir seit fast einem Monat im Camp arbeiten, zu einem gewissen Dämpfer.

Letzte Woche fand genau dazu ein Treffen aller Frewilligen von „Together for Better Days“ statt, bei dem uns das Organisationsteam bestätigte, dass alle notwendigen Aufgaben jetzt soweit getan sind, dass andere Organisationen die Arbeit in Elpida übernehmen können. Das Ziel, schnell und effizient einen Wohnraum mit allem, was man zum Leben braucht, auf- und auszubauen, wurde erreicht. Und die Stärken von „Together for Better Days“, Innovation, Effizienz, Kreativität, ausgenutzt. Jetzt steht im nächsten Monat eine Übergangsphase an: wir von „Together for Better Days“, die wir bislang die Aktivitäten angeboten haben, übergeben Schritt für Schritt an eine neue Organisation. Und „Together for Better Days“ kann sich in ein nächstes Projekt stürzen, Neues aufbauen und mehr Leuten einen Aufenthalt in besseren Verhältnissen ermöglichen kann.

Was bedeutet das für uns? Wir sind einerseits sehr gut damit beschäftigt, unsere Klassen zu unterrichten und könnten damit auch noch fortfahren, nachdem die anderen Freiwilligen von „Together for Better Days“ das Camp verlassen. Andererseits reizt es uns, auch in andere Organisationen zu schauen und da mit anzupacken, wo die Notwendigkeit noch größer ist.

Kontakte, die uns das ermöglichen, gibt es genug: einige der Freiwilligen aus unserem Camp haben beispielsweise diese Woche begonnen, in einem anderen Camp mitzuhelfen. Es ist, wie die meisten Camps in Thessaloniki, ein Militärcamp, das man eigentlich nur mit einer Erlaubnis betreten darf. Die Freiwilligen hatten aber offiziellen Kontakte, sondern nur die Handynummern von Campbewohnern, und waren illegalerweise durch ein eingeworfenes Fenster eingestiegen. Die 1500 Bewohner in diesem Camp leben in Zelten und organisieren sich im Wesentlichen selbst. Es gibt zwar Freiwilligenorganisationen vor Ort, aber die gesamte Verteilung von Aufgaben läuft anscheinend über einen geflüchteten Menschen, der unsere Freiwilligen in seinem Zelt empfing. Es gibt auch in diesem Camp Bedarf nach Sprachunterricht, Sport, einer Stunde Ablenkung jeglicher Art. In welcher Form wir in anderen Camps oder für andere Organisationen arbeiten können und wollen, werden wir in den nächsten Tagen herausfinden.

Klar ist aber, dass wir uns nicht einfach so von unserem Elpida-Camp verabschieden wollen (nicht, weil wir attached sind natürlich...). Vielmehr brauchen wir eine neue Herausforderung, die uns Energie gibt, um die Situation in Griechenland weiter zu verbessern.

Und damit dieser Eintrag nicht allzu betrüblich wird, hängen wir hier das Video an, das in den letzten Wochen entstanden ist. Zwei wunderbare Mitfreiwillige, Igor und Guillaume, haben Campbewohner und Freiwillige gefragt, was sie sich für die Zukunft wünschen. Die Antworten sind traurig-schön, das Licht ist traurig-schön, die Musik ist... traurig. Perfekt!

Viel Vergnügen beim Angucken!